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The Widest Story Ever Told:
Ultra Panavision / MGM Camera 65 |
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in70mm.com The 70mm Newsletter
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Von:
Christian Appelt. First published in
the 2015 "Todd-AO Festival" Souvenir Program |
Date:
01.01.2016 |
Als Quentin Tarantino 2014 ankündigte, seinen achten Spielfilm
unter dem Titel The Hateful Eight im Format SuperCinemaScope
drehen zu wollen, vermuteten viele, es handele sich um einen
nostalgischen Gag, vergleichbar dem “ShawScope”-Logo, das
der Regisseur Kill Bill voranstellte, der aber nicht anamorphotisch
und schon gar nicht mit Objektiven aus den 1970ern gedreht
war.
1)
Für weitere Verwirrung sorgte der anfangs benutzte Begriff
“SuperCinemaScope”, der in den ersten Plakatentwürfen als
Logo auftauchte. “SuperCinemaScope” war nämlich eine frühe
Bezeichnung für das
CinemaScope 55-Format, in dem 1955/56
lediglich zwei Spielfilme gedreht wurden - die Musicals
Carousel und The King and I.
Daß Tarantino die einzig noch existierende CinemaScope-55-Kamera aus den Räumen der American Society of Cinematographers
entführen, sich von Kodak 55,625 breiten Rohfilm zuschneiden
und mit den 60 Jahre alten Bausch & Lomb-Anamorphoten
drehen würde, war nicht anzunehmen. Was er sich vorgenommen
hatte, war nicht weniger außergewöhnlich (oder verrückt):
Nachdem im Lauf des Jahr 2013 zumindest in westlichen
Filmtheatern das perforierte 35-mm-Filmband von digitaler Projektion
abgelöst wurde und die meisten Kino- und TV-Produktionen
von auf Digitalkameras umgeschwenkt waren, beschloß
Tarantino, seinen Western The Hateful Eight in einem System zu
drehen
• in dem seit fast 50 Jahren kein Film mehr aufgenommen und
projiziert wurde,
• in dem nur insgesamt 10 Spielfilme gedreht wurden,
• für das kaum ein Kino weltweit die geeignete Bildwandbreite
besitzt,
• dessen Aufnahme-Objektive aus den Jahren 1956-1965
stammen,
• dessen Bildseitenverhältnis (aspect ratio) in keiner Weise mit
den üblichen analogen und digitalen Kinoformaten übereinstimmt,
ebenso wenig mit den Seitenverhältnissen von Fernsehen,
DVD oder BluRay.
Das Produktionsformat hieß
Ultra Panavision 70, und gedreht
wurde mit den historischen Objektiven, die bereits
für Klassiker wie Ben-Hur, Mutiny on the Bounty oder It’s a Mad,
Mad, Mad, Mad World eingesetzt wurden.
2) Es war mit einem
Seitenverhältnis von 1:2,76 das breiteste in der Spielfilmproduktion
eingesetzte Format, und die Filmografie umfasst lediglichzehn Titel.
Um die Frage zu beantworten, was es mit diesem exotischen
Filmformat auf sich hat, stellen wir unsere Zeitmaschine auf das
Jahr 1956 ein. Wir befinden uns nun vier Jahre nach der Premiere
von Cinerama am Broadway, drei Jahre nach der weitgehend
erfolgreichen Einführung von CinemaScope in den Filmtheatern
der Welt.
3)
Die Filmgeschichtsschreibung faßt die Ereignisse der frühen
fünfziger Jahre etwa so zusammen: Harte Konkurrenz durch das
neue Medium Fernsehen veranlasste die Filmindustrie, eine unübersehbare
Zahl von konkurrierenden 3D- und Breitwandsystemen
auf den Markt zu werfen, um den Besucherrückgang aufzuhalten.
Das funktionierte einige Jahre, bis schließlich in den
1960er Jahren das klassische Hollywood-Studiosystem in sich
zusammenbrach und diversifizierte Mischkonzerne Hollywood
übernahmen. Tatsächlich war nicht das Fernsehen allein schuld,
sondern eine Reihe gesellschaftlicher Veränderungen in der Folge
des 2. Weltkriegs wirkten zusammen. 1948 zwang ein Kartellurteil
die Studios, ihre eigenen Kinoketten aufzugeben, damit fiel
die sichere Abspielbasis aller Filme in den firmeneigenen Theatern
weg. Auf einmal mußte jeder Film für sich vermarktet werden,
auch der gewohnheitsmäßige wöchentliche Kinobesuch
war nicht mehr die Regel. In dieser wirtschaftlich beunruhigenden
Lage war das Cinerama-Verfahren ein Phänomen: Um This
Is Cinerama zu sehen, einen Film ohne Stars und Handlung,
standen nicht nur die New Yorker Kinobesucher Schlange, sondern
aus ganz Amerika pilgerten Schaulustige nach New York,
um auf der gigantischen, tiefgewölbten Panoramabildwand die
Illusion des Dabeiseins zu erleben. Rummelplatz? Vielleicht -
aber wenn eine technische Neuerung für volle Kassen sorgte,
mußten auch die Filmstudios
einen Blick darauf werfen. Das
System war außerhalb der eigentlichen
Filmindustrie entwickelt
und vermarktet worden,
und die technischen Fachleute
der Studios teilten ihren Chefs
mit, daß der Effekt eindrucksvoll,
der technische Aufwand
bei der Herstellung und Aufführung
aber für die reguläre
Filmproduktion viel zu aufwendig
sei. Die Studios machten
um Cinerama einen großen
Bogen, und das sollte ein
Jahrzehnt lang so bleiben.
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More in 70mm reading:
Ultra Panavision 70,
Early lenses
The Hateful Eight
Motion
pictures photographed in MGM Camera 65 / Ultra Panavision 70
11. Todd-AO 70mm-Festival
2015
Ultra Panavision 70,
Early lenses
Traumreisen auf breitem
Filmband: Das M.C.S.-70-Verfahren
CinemaScope
55
Berg der Kinoträume:
Paramounts VistaVision
Internet link: |
CinemaScope imitiert Cinerama
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230mm
Camera 65 focal length lens that was used on “Ben Hur”.
Image by
Tak Miyagishima, Panavision
Während der kurzlebigen Welle des 3-D-Films (1952-1954),
arbeitete Earl Sponable bei 20th Century Fox an der Quadratur
des Kreises. Sein Auftrag: Den Cinerama-Effekt so zu imitieren,
daß man den 35-mm-Film für Aufnahme und Vorführung in den
Kinos beibehalten konnte. Wie schwierig es war, auf der Kinoseite
neue Projektoren einzuführen, hatten die Techniker bereits
in der kurzen Breitfilm-Phase Anfang der 1930er Jahre erfahren.
4)
Sponable und sein Entwicklungsteam lösten das Problem,
indem sie den 35-mm-Filmstreifen bis zum letzten Quadratmillimeter
ausnutzten. Mittels anamorphotischer Speziallinsen
brachten sie ein komprimiertes Breitbild ins nahezu quadratische
35-mm-Format, vier Tonkanäle auf Magnetspuren direkt
auf dem Filmstreifen brachten stereophonen Raumton in den
Kinosaal.
Als Low-Budget-Cinerama wirkte CinemaScope (Seitenverhältnis
1:2,55 – später auf 2,35 reduziert) in seiner optimalen Form
gegenüber dem sonst üblichen 1:1,37-Normalbild mit Mono-Lichtton äußerst eindrucksvoll, aber es konnte den “Anwesenheitseffekt”
von Cinerama nicht kopieren. Der ergab sich nämlich
nicht nur aus dem großen Panoramabild, sondern aus der
Kombination von drei weitwinkeligen Aufnahmeoptiken und
dem 146° abdeckenden Blickwinkel, der das natürliche Sehfeld
nachahmte.
CinemaScope stellte nicht einfach eine technische Neuerung
dar, sondern einen radikalen Schritt in der Firmenpolitik von 20th
Century Fox, bei dem mit Umstellung der Eigenproduktion auf
das neue Format alles auf eine Karte gesetzt wurde. Beabsichtigt
war auch, die damals drohende feindliche Übernahme des
Studios durch Investoren zu verhindern.
5)
Als sich CinemaScope durchsetzte, begannen einige Studios,
eigene konkurrierende Breitbildverfahren zu entwerfen, andere
sprangen auf den fahrenden CinemaScope-Zug auf und zahlten
Lizenzgebühren an 20th Century Fox, um ihre eigenen Produktionen
in diesem Format herzustellen. Es galt nun, in kurzer Zeit
möglichst viele Filmtheater weltweit auf CinemaScope umzurüsten.
Das war ein eigenes Komplettpaket: neue Bildwände, 4-
Kanal-Magnetton-Anlagen und vor allem Anamorphoten. Weil
damals mit zwei Filmprojektoren vorgeführt wurde, benötigte
jedes Kino gleich zwei dieser Speziallinsen, die die horizontale
Kompression aufhoben und aus dem fast quadratischen Filmbild
ein breitwandfüllendes Projektionsbild zauberten. Die Fox verkaufte
Anamorphoten ihres Vertragspartners Bausch & Lomb
über ihre eigens gegründete Tochterfirma CinemaScope, Inc.
Wer nicht dort kaufen wollte, mußte sich im Ausland umsehen -
zum Beispiel bei den Optischen Werken Möller in Deutschland
oder dem französischen Hersteller SATEC.
Die Ende 1953 gegründete Firma Panavision Inc. bot den Kinobetreibern
einen speziellen Vorsatz aus zwei gegeneinander verstellbaren
Prismen unter der Bezeichnung “Super Panatar” an.
Man konnte damit normale CinemaScope-Filme (Kompressionsfaktor
2) vorführen, aber durch Verdrehen der Prismen den Vorsatz
auch auf andere Faktoren einstellen. Der Kinobesitzer war
also auf der sicheren Seite, wenn sich ein Filmstudio plötzlich
entschließen sollte, anamorphotische Filme mit einem Faktor
von 1,5 oder 1,75 auszuliefern. Ein Dreh am Knopf, und die
Anamorphose war stufenlos einstellbar.
6)
Nach diesem ersten Erfolg entwickelte Panavision ein anamorphotisches
Kopierobjektiv, mit dem man von Scopefilmen entzerrte
Normalbildfassungen herstellen oder aus Normalbildmaterial
CinemaScope-Ausschnitte kopieren konnte. Dieses Micro-Panatar genannte Objektiv erlaubte es, bei CinemaScope-Produktionen
auf parallel gedrehte Normalbildfassungen zu verzichten.
Das für Fernsehkopien, 16mm-Schmalfilm oder Kinos ohne
Breitwand benötigte 1:1,37-Format konnte man nunmehr optisch
aus dem CinemaScope-Negativ gewinnen.
7)
Nun ein kleiner Zeitsprung ins Jahr 1956. Bei Metro-Goldwyn-Mayer hatte man die technische Entwicklung der letzten vier
Jahre genau analysiert und verschiedene Schlüsse gezogen. Ein
Teil der eigenen A-Produktion wurde weiterhin in CinemaScope
gedreht, aber die technischen Unzulänglichkeiten des Verfahrens
machten den Technikern zu schaffen. Bei sehr großer Projektion
stieß man an die Grenzen des 35-mm-Formates, weil das
Korn der fotografischen Emulsion sichtbar wurde. Immerhin
wurde das Filmbild auf nahezu die doppelte Breite vergrößert.
35mm war zu klein, Cinerama zu kompliziert – als Lösung bot
sich die Aufnahme in größeren Filmformaten an. 1955 erscheint
mit Oklahoma! der erste Spielfilm in Todd-AO, aufgenommen auf
65mm breitem Negativ, das der dreifachen Fläche eines 35-mm-Bildchens entspricht. Die 70mm breiten Vorführkopien erlaubten
eine hochauflösende, gestochen scharfe und kornfrei erscheinende
Projektion selbst auf größten Bildwänden. Auch kam der
sechskanalige Stereo-Magnetton dem Raumtonerlebnis von Cinerama
(7 Kanäle) sehr nah. Allerdings betrug die Bildfrequenz
30 statt der üblichen 24 Bilder pro Sekunde - parallel zur Breitfilmfassung
entstand eine 35-mm-CinemaScope-Version mit 24
B/s, um auch Kinos ohne Breitfilmtechnik bespielen zu können.
Der Erfolg von Todd-AO bewies, daß ein in Bild und Ton hochwertiges
Kinoerlebnis auf dem Roadshow-Markt große Gewinne
versprach. Technisch war man bei MGM durchaus beeindruckt
von Todd-AO, wollte aber aus firmenpolitischen Gründen nicht
wie im Falle CinemaScope Geld ausgeben, um ein fremdes Verfahren
in Lizenz benutzen zu dürfen.
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MGMs Analyse der Systeme
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Wer sich mit Filmtechnik-Geschichte befaßt, muss die Wahrheit
oft genug aus technisch unzulänglichen PR-Texten, halbinformiert
geschriebenen zeitgenössischen Fachartikeln und lückenhaft
recherchierten oder abgeschriebenen Büchern rekonstruieren.
Niedergeschriebene und mündliche Erinnerungen von
Zeitzeugen helfen manchmal weiter, oft führen sie aber auch
wegen Erinnerungslücken und Verwechslungen nur weiter in die
Irre.
8)
In diesem Fall gibt es glücklicherweise ein klar strukturiertes
Dokument, das die Motive und Abwägungen hinter dem Design
von MGMs neuem Filmformates klar beleuchtet.
9)
Douglas Shearer (1899-1971) war von 1928 bis 1968 bei MGM
angestellt, er ist in den meisten Fällen als Recording Director -
also Leiter der Tonabteilung - ausgewiesen. 1955 machte man
ihn zum Director of Technical Research, um alle Fragen und
Strategien im Zusammenhang mit neuen Bild- und Tonverfahren
zu bearbeiten. Bereits 1953 hatte die MGM-Kameraabteilung ein
System mit querlaufendem 35-mm-Film vorgeschlagen, ähnlich
Paramounts VistaVision, wie es ein Jahr darauf vorgestellt wurde.
10) Der Bildschritt sollte allerdings zehn statt acht Perforationslöcher
betragen, so daß man das entstehende Breitbild ohne
Beschnitt auf Standard-Cinemascope umkopieren konnte. Wie
bei VistaVision sollte durch Reduktion des größeren Negativs
Auflösung und Schärfe der 35-mm-Kinokopie gesteigert werden.
Shearer verfolgte diesen Weg nicht weiter, denn das mittlerweile
durch Todd-AO eingeführte 65-mm-Format schien ihm
ein besseres Vorbild zu sein. Ein übergroßes Aufnahme- und
Projektionsformat auf breitem Film war eindeutig der Schlüssel,
um alle optischen Probleme der bisherigen Breitbildtechnik zu
lösen.
11)
Mike Todd war eine der treibenden Kräfte hinter Cinerama gewesen,
hatte aber wegen verschiedener Differenzen seine Anteile
verkauft, noch bevor This Is Cinerama Premiere hatte. Danach
begann er sofort, mithilfe der American Optical Co. sein eigenes
“Cinerama out of one hole” entwickeln zu lassen, also ein Filmformat,
das den überwältigenden räumlichen Effekt von Cinerama
mit nur einer Kamera und einem Projektor erzeugen sollte.
Die dreistreifige Technik von Cinerama war nicht nur bei der Produktion
unglaublich teuer, auch die reguläre Vorführung in den
eigens umgebauten Theatern benötigte bis zu 12 Techniker
gleichzeitig. Da die Filmvorführer wie der Rest der US-Filmindustrie
bestens gewerkschaftlich organisiert waren, schied Cinerama
aus Kostengründen selbst für exklusive Roadshows in normalen
Filmtheatern aus.
Verschiedene Kameratests für Todd-AO fanden in den MGM Studios
statt, auch an Oklahoma! war MGM-Vertragspersonal
beteiligt, zum Beispiel Kameramann Robert Surtees. Man kann
davon ausgehen, daß Douglas Shearer als Abteilungsleiter bei
MGM über den technischen Hintergrund und die Details von
Todd-AO bestens informiert war. Er hatte auch die Erfahrungen
mit den konkurrierenden Systemen VistaVision und CinemaScope 55 analysiert und seine Schlußfolgerungen daraus
gezogen. Was konnte man nun aus den Verfahren der Konkurrenz
lernen?
• Das Aufnahmeformat musste nicht dem Wiedergabeformat
entsprechen. Nahm man auf größeren Filmformaten auf, enthielt
das Bild mehr Information und Auflösung, außerdem reduzierte
sich das sowohl bei Farbe als auch bei Schwarzweiß sichtbare
störende Korn der Filmemulsion (Silber- bzw. Farbstoff-Struktur
des Bildes).
• Durch optische Umkopierung war es möglich, große Bildformate
auf kleinere zu reduzieren und dabei die hohe Bildgüte weitgehend
zu erhalten. Anamorphotische Kompression konnte durch
geeignete Kopieroptiken erzeugt oder aufgehoben werden.
• Aus einem großen Aufnahmeformat liessen sich Filmbilder mit
verschiedenen Seitenverhältnissen herauskopieren, wenn die
Ausgangsqualität gut genug war.
• Für Roadshow-Vorführungen mit überdimensionalen Bildwänden
waren großformatige Vorführkopien vorzuziehen, weil sie die
bestmögliche Qualität boten, während für die Auswertung in
normalen Kinos unbedingt das gewohnte 35-mm-Filmformat
benötigt wurde. Nur wenige Filmtheater waren bereit, auf neue
Projektionstechnik und –verfahren umzurüsten.
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Gesucht: Ein universales Format für alle Zwecke
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The
Panavision Micro Panatar lens. Picture supplied by Tak Miyagishima,
Panavision.
Aus dieser Analyse ergab sich der Wunschzettel für ein neu zu
schaffendes Universalformat, in dem zukünftige MGM-Prestigeproduktionen
entstehen wollten. Shearer umriß die vorgeschlagenen
Eckpunkte und begründete sie technisch:
• Das Negativformat sollte groß genug sein, um verschiedene
Endformate bei bester Auflösung und Bildgüte herauszukopieren.
Als Basis empfahl er das bei Todd-AO verwendete 65-mm-
Bild mit 5-Loch Transportschritt. Weitere Flächenvergrößerung
sei nicht effizient, wie das Beispiel von CinemaScope 55 zeige:
Die vierfache Vergrößerung der Negativfläche ergebe keine weitere
Verbesserung, sondern nur mehr Filmverbrauch. Die 2,5-fache Fläche des 65-mm-Bildes sei ideal.
• Das aufgenommene Seitenverhältnis sollte auf jeden Fall
breiter sein als 1:2,21 bei Todd-AO. 35-mm-Reduktionskopien
sollten dem eingeführten CinemaScope (1:2,55) nahekommen,
für spezielle Roadshow-Aufführungen sollte eine Bildbreite bis
zu 1:3 (ähnlich Cinerama) möglich sein. Dazu benötigte man
anamorphotische Objektive. Shearer schlug einen mäßigen
Kompressionsfaktor von maximal 25% vor, um optische Fehler
in Grenzen zu halten. Als Negativbeispiel führte er abermals
CinemaScope 55 an, welches bei der Aufnahme den Faktor 2
verwendete und deshalb nicht die Auflösung linear zur Bildfläche
steigern konnte.
12)
• Das System sollte frei sein von den geometrischen Verzeichnungen
und Abbildungsfehlern, die durch die damaligen Anamorphoten
der CinemaScope-Technik entstanden. Besonders erwähnt werden gebogene Linien
und Horizonte sowie das
Schmalerwerden von Objekten am Bildrand.
• Die Bildfrequenz durfte nicht von den üblichen 24 Bildern pro
Sekunde abweichen, um Probleme in der herkömmlichen Kino-Auswertung zu vermeiden. Das spielt natürlich auf die 30 B/s bei
Todd-AO und die 26 B/s von Cinerama an. Erst beim zweiten
Todd-AO-Film entstand parallel eine Breitfilmfassung mit 24 Bildern,
von der 35-mm-Kopien reduziert werden konnten, und ab South Pacific (1958) gab Todd-AO nur noch in 24B/s. Cinerama
blieb bis 1962 bei 26 B/s. Douglas Shearer hielt die Technik des
Doppel-Drehs mit zwei Frequenzen jedenfalls für finanziell untragbar.
• 35-mm-Kopien konnten vom anamorphotischen 65mm-Breitfilmnegativ
entweder über ein 35-mm-Internegativ und Kontaktkopierung
oder im Technicolor-Druckverfahren (imbibition printing)
13) entstehen. Dabei sei die Micro-Panatar Kopieroptik von
Panavision derzeit die einzige hochwertige Lösung. Shearer ging
davon aus, daß Todd-AO diese Reduktionskopierung nicht in
bester Qualität leisten könne und bezweifelte, daß Panavision
dem Konkurrenzsystem Kopieroptiken in Lizenz zur Verfügung
stellen werde.
Projektion auf gewölbte
Bildwände
sei mit dem neuen
MGM/Panavision
65-mm-Format
ohne weiteres
möglich, wobei
nicht mehr Verzeichnungen
entstünden
als bei
anderen Systemen.
Das ist sicher
richtig, dient aber
zweifellos auch zur
Beruhigung der
Chefetage, ähnlich
wie die Bemerkungen
über das Bildflackern.
Shearer meint, man könne nötigenfalls die Projektoren
mit einer Dreiflügelblende ausstatten, und Lichtreserven gebe es
genug, um den daraus resultierenden Helligkeitsverlust auszugleichen.
Das ist theoretisch wohl möglich, in der Praxis war das
beim Philips DP70 Breitfilmprojektor, der jahrelang die Roadshowtheater
dominierte, konstruktiv überhaupt nicht möglich.
Auch ließ das flächenmäßig größere Filmbild höhere Lichtströme
und Wärmebelastung zu, aber die Ausleuchtung sehr großer
Bildwände blieb trotzdem eine Herausforderung. Bei allem
Respekt liegt die Vermutung nahe, daß Shearer damit eine weitere
Diskussion der Bildfrequenzfrage vermeiden wollte. Auch
die Betonung der extremen Seitenverhältnisse von 1:3 ist wohl
mehr als Absicherung zu verstehen, weil zu diesem Zeitpunkt völlig ungewiß
war, ob Cinerama zur Spielfilmproduktion übergehen
würde und ob dreistreifige Vorführung von MGM-Filmen
eine Option werden könnte. Die Möglichkeit, aus dem neuen
MGM-Format Cinerama-Kopien herauszukopieren, wird immerhin
erwähnt.
Shearers Memo wurde positiv aufgenommen, MGM folgte seinen
Empfehlungen und beauftragte Panavision Inc.
14), Kameras
und Objektive des neuen Formates zu liefern, das bald auf den
eigenartigen Namen “MGM Camera 65” mit dem blumigen Zusatz
“Window of the World” getauft wurde.
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Ein erster Bewährungstest für MGM Camera 65: Im Land des Regenbaums
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Am 12. Oktober 1956 präsentierte MGM Camera 65 im Rahmen
der SMPTE-Konferenz in einer Demonstrationsvorführung. Douglas
Shearer und Robert Gottschalk von Panavision stellten die
Flexibilität des Formats heraus. “Vom Standpunkt des Produzenten
aus ist die Wahlmöglichkeit des endgültigen Verleihformats
einer der Vorzüge dieses 65-mm-Verfahrens”, erklärte
Gottschalk, “er benötigt nur mehr eine Kamera, ein Team und
ein Negativ, so daß er nach Fertigstellung des Films entscheiden
kann, welches Auswertungsformat das passende sein wird.”
Elizabeth
Taylor, Eva
Marie Saint
und Montgomery
Clift betrachten
für
ein Pressefoto
zu
Raintree
County
einen
70-mm-Filmstreifen
Die erste Camera 65-Produktion war Raintree County (dt.: Im
Land des Regenbaums), eine Bürgerkriegsgeschichte unter der
Regie von Edward Dmytryk. MGM hoffte anfangs, an den Erfolg
von Gone With the Wind (dt.: Vom Winde verweht, 1939) anzuknüpfen
zu können, was aber nicht eintrat. Immerhin demonstrierte
Raintree County, daß das Konzept von Camera 65 funktionierte,
denn die 35-mm-Scope-Reduktionskopien auf Eastmancolor
waren technisch hervorragend. 70-mm-Kopien gab es in
der regulären Kinoauswertung nicht, weil sämtliche auf 70-mm-
Projektion eingerichtete Kinos mit den monatelang laufenden
Todd-AO-Produktionen
Oklahoma! und Around the World in 80
Days belegt waren. Also betrachtete man Raintree County als
Achtungserfolg und Testlauf für die schon seit Jahren geplante
Großproduktion von Ben-Hur (1959). Die Dreharbeiten begannen
1958, insgesamt waren sieben von Panavision umgebaute
65-mm-Kameras mit Apo-Panatar-Objektiven im Einsatz.
Über den weltweiten Erfolg und die bis heute andauernde Popularität
von Ben-Hur muß nicht viel gesagt werden.
15) Sicher ist,
daß MGM sich durch den Erfolg in der kommerziellen Wirksamkeit
der 65-mm-Aufnahme für zukünftige A-Filme bestärkt sah.
Ben-Hur kam mit 65 Kopien in 70mm vom Kameranegativ und
etwa 400 Technicolor-Kopien in 35mm in die Kinos, wobei nicht
klar ist, ob das die Kopien für ausländische Märkte miteinschloß.
Merle Chamberlin von MGM gab die Herstellungskosten mit
1.700$ für jede 35mm-Kopie in Magnetton und 8.750$ für jede
70-mm-Breitfilmkopie an. Insgesamt gab das Studio zur Erstaufführung
1.240.000$ für Ben-Hur-Kopien aus.
16)
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Schiffbruch in der Südsee und ein Namenswechsel
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Als nächster Camera-65-Film stand eine Neuverfilmung von Mutiny
on the Bounty (dt. Meuterei auf der Bounty) auf dem Plan,
ein bewährter und exotischer Stoff, der reiche optische Ausbeute
für das breite Format versprach. Aber die Produktion mit Aufnahmen
an farbenprächtigen Südseeschauplätzen stand unter
keinem guten Stern. Carol Reed wurde als Regisseur abgelöst,
der Hauptdarsteller Marlon Brando übernahm zeitweilig die Regie,
und schließlich rief man Lewis Milestone hinzu, um als troubleshooter
die aus dem Ruder gelaufene Produktion zuende
bringen. Mutiny überzog den Zeit- und Kostenplan immens, worauf
MGM später zur finanziellen Schadensbegrenzung die eigene
Kameraabteilung auflöste. Zukünftig lieh man sich die Aufnahmetechnik
bei Panavision aus. Damit war auch das Ende der
Marke “MGM Camera 65” besiegelt, ab sofort hieß das Verfahren
Ultra Panavision (mit oder ohne “70”-Appendix).
Technisch gab es keinen Unterschied zwischen Camera 65 und
Ultra Panavision. Ältere Quellen geben zuweilen an, Camera 65
habe den anamorphotischen Faktor 1,33 verwendet, während es
bei Ultra Panavision nur 1,25 gewesen sei. Dieser Irrtum ist
durch Shearers Dokument und durch Auskünfte der Firma Panavision
widerlegt. Martin Hart vom American Wide Screen Museum
hat nachgewiesen, daß die erhaltenen Apo-Panatar-Prismenanamorphoten
der ersten Serie zwar mit 1,33x graviert wurden,
der Faktor aber nach den ersten Testaufnahmen auf 1,25
reduziert wurde.
17)
Etwa um die Zeit der Bounty-Dreharbeiten
konstruierte Panavision allerdings zusätzliche neue Anamorphoten,
die nicht mehr mit Prismen arbeiteten sondern mit Zylinderlinsen,
ähnlich den verbesserten Auto-Panatar-Anamorphoten
zur 35-mm-Aufnahme. Diese Linsenanamorphoten ließen mehr
Licht durch als die weniger effektiven Prismenoptiken.
Im Vergleich mit Todd-AO, Super Panavision, M.C.S. 70 und anderen
70-mm-Systemen, die sphärische (also nicht-anamorphotische)
Aufnahmeoptiken verwenden, hatte Ultra Panavision eine
deutliche Einschränkung: Es gab keine wirklichen Weitwinkelobjektive.
Aufnahmen wie in Around the World in 80 Days mit dem
Todd-AO “Bugeye”-Objektiv oder die dreidimensional wirkenden
Außenaufnahmen in The Agony and the Ecstasy (1964, Todd-AO) waren in Ultra Panavision nicht möglich. Die Prismenanamorphoten
ließen keine kurzen Brennweiten zu.
18)
Die Szenen unter Deck
in Mutiny on the Bounty lassen erkennen, wie das Fehlen kurzer
Brennweiten die Bildgestaltung einschränkte. Es ist anzunehmen,
daß für MGM und Panavision die Vermeidung von Randverzeichnungen
und das übergroße Bildseitenverhältnis wichtiger waren
als die kurzen Brennweiten. Filme dieser Größenordnung wurden
damals ohnehin in gebauten Sets gedreht, so daß man die
Raumwirkung stets unter Kontrolle hatte. Drehs an engen
Originalschauplätzen,
wie sie später eindrucksvoll in Otto Preminger
Exodus (1960) mit kurzen Brennweiten in Super Panavision zu
sehen waren, hielt man nicht für besonders wichtig.
Eine Tabelle von 1966 im A.S.C. Manual, einem Handbuch für
Kameraleute und Techniker, weist für Ultra Panavision insgesamt
acht verfügbare Brennweiten aus, und zwar 35mm als kürzeste
und 300mm als längste. Einiges deutet darauf hin, daß anfänglich
ein 55mm-Objektiv (63,9° horizontal) die kürzeste Brennweite
war und sowohl das 50mm (69,4°) als auch das 35mm (92,3°)
erst später hinzukamen, als Panavision für neue Optiken Zylinderlinsen
statt Prismenblöcken einsetzte. Das für Ben-Hur konstruierte
320mm-Tele mit Prisma taucht in der Aufzählung von
1966 nicht mehr auf, dafür ein 300mm.
Das Fehlen eines starken Weitwinkels führte dazu, daß Ultra Panavision-Filme auf tiefgewölbten Bildwänden nicht ganz die
räumliche Wirkung entfalten konnten, wie es bei sphärisch
gedrehten 70mm-Filmen möglich war.
19)
Aufnahmen mit dem
Ultraweitwinkel von Todd-AO , das einen Bildwinkel von 128°
erfaßte oder mit dem kürzesten Brennweiten von
Super Panavision
und Dimension-150 (Patton,
The Bible) konnten der räumlichen
Illusion des dreistreifigen Cinerama-Bildes sehr nah kommen.
20)
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Wilder Westen und Märchenwelten: Spielfilme in Cinerama
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Was tat sich inzwischen bei Cinerama? Nachdem man zehn
Jahre lang in reinen Travelogues (Reise- und Naturfilmen) den
Globus abgegrast hatte, einigten sich MGM und Cinerama Inc.
auf eine Kooperation, in deren Folge zwei Spielfilme im dreistreifigen
Cineramaformat entstanden. How the West Was Won ist
bis heute ein atemberaubendes visuelles Erlebnis und war ein
großer kommerzieller Erfolg, während Wonderful World of the
Brothers Grimm auf dem internationalen Markt deutlich schlechter
abschnitt. Es zeigte sich, daß die Produktion von Spielfilmen
mit der Dreistreifen-Cineramakamera um ein Vielfaches komplizierter
war als die Aufnahme von Travelogues. Nicht nur mußte
man die Nahtstellen zwischen den drei Bildpanelen kaschieren,
selbst Blicklinien zwischen Darstellern und Bewegungen über
die Bildbreite wurden ein gestalterisches und logistisches Problem.
“Old three-eyes”, wie die monströse Kamera genannt wurde,
sah einfach alles, zuweilen auch den Regisseur John Ford,
der sich aus Gewohnheit nach vorn beugte, um der Darstellung
der Akteure besser folgen zu können.
Ein weiteres Problem bestand in der Auswertung außerhalb der
Cinerama-Theater: 35mm-Kopien im Scopeformat beschnitten
das Bild seitlich, auch wirkten die Trennstreifen und Farbunterschiede
zwischen den drei Teilbildern störender als in der
überwältigenden Panoramaprojektion. Die Bildfrequenz wurde
bei den MGM-Cinerama-Filmen auf 24 B/s reduziert, wie es für
35-mm-Kinos üblich war. Trotz des Erfolges von How the West
Was Won war MGM nicht bereit, eine weitere Cinerama-Produktion
zu wagen. In der Folge wurde Cinerama von der Kinokette
Pacific Theatres aufgekauft. Diese stoppte zunächst die laufende
Entwicklung der neuen Cinerama-Technik, welche den vollen
räumlichen Panoramaeffekt bei gleicher Auflösung und ohne
störende Trennlinien bieten sollte. Man entschied sich, die existierenden
Cinerama-Theater auf 70-mm-Projektion umzustellen
und zukünftig Ultra Panavision als Produktionsformat zu wählen.
Der erste in “single-lens Cinerama” präsentierte Film war Stanley
Kramers Komödie It’s a Mad, Mad, Mad, Mad World (1963).
In den USA genießt der Film bis heute Kultstatus und eine für
europäischen Geschmack nicht immer nachvollziehbare Verehrung.
Fotografisch ist er mit seinen aufwendigen Auto- und Flugzeugstunts,
tiefenscharfen Landschaftsaufnahmen und dem
kompromißlos über die Bildbreite aufgereihten Staraufgebot
mehr als eindrucksvoll.
Für die Auswertung mit “single-lens-Cinerama”, also in 70mm
Ultra Panavision auf tiefgewölbten Bildwänden, stellte das Technicolor-Kopierwerk Kopien her, deren Randzonen durch eine
Spezialoptik seitlich komprimiert wurden, um Verzeichnungen
durch die Bildwandkrümmung auszugleichen. Solche Kopien
wirken natürlich merkwürdig, wenn man sie auf einer flachen
Bildwand vorführt, aber das Verfahren wurde auch bei den späteren
Ultra-Panavision-Filmen Battle of the Bulge (1965) und
Khartoum (1966) eingesetzt.
21)
Technicolor war übrigens auch in der Lage, aus einem Breitfilmnegativ
drei Einzelfilme zur Projektion in Cinerama-Kinos herzustellen.
Das wurde bei How the West Was Won für mehrere Einstellungen
praktiziert, damit man in Actionsequenzen die leichteren
Ultra Panavision-Kameras anstelle der schweren und unbeweglichen
dreiäugigen Cinerama-Appartur einsetzen konnte.
Einige spektakuläre Kampf- und Massenszenen entlieh man sich
für die Bürgerkriegs-Episode aus Raintree County (Camera 65)
und The Alamo (Todd-AO), sie wurden am optischen Printer auf
drei Cinerama-Streifen aufgeteilt.
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Durch die Wüste in Ultra Panavision: Georges Stevens unendliche Geschichte
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Cinerama Kamera am Set von DAS WAR DER WILDE
WESTEN
Neben Mutiny on the Bounty gab es eine weitere problembeladene
Produktion in Ultra Panavision, die Rede ist von George
Stevens’ The Greatest Story Ever Told. Geplant als definitive
Filmbiographie des Jesus von Nazareth, begannen die Dreharbeiten
1962 in dreistreifigem Cinerama, wurden aber nach drei
Drehtagen abgebrochen und später in Ultra Panavision neu begonnen.
Ob und wieweit diese Entscheidung mit den MGM/Cinerama-Koproduktionen zu tun hatte, ist bis heute nicht geklärt.
Möglicherweise wollte United Artists nicht das Risiko eingehen,
Stevens bekannten Filmmaterialverbrauch zu verdreifachen,
oder man wollte die weltweite 35-mm-Auswertung nicht durch
Trennstreifen beeinträchtigt sehen. So endete die Spielfilmproduktion
im echten Cinerama, einen weiteren Anlauf gab es nicht
mehr. Greatest Story kam wegen Stevens endlosen Auseinandersetzungen
mit United Artists erst zwei Jahre nach seiner Fertigstellung
ins Kino. Die Kosten waren auf 20 Millionen Dollar
gestiegen, Stevens belichtete unglaubliche 1,8 Millionen Meter
65-mm-Film, was einem Drehverhältnis von mehr als 200:1 entspricht.
Optisch bekam United Artists durchaus etwas geboten
für die Millionen: Stevens hatte beschlossen, seinen Bibelfilm
nicht im heiligen Land zu drehen, sondern in den eindrucksvollsten
Landschaftsformationen, die der amerikanische Südwesten
zu bieten hatte. Die Salzseen Utahs, Death Valley und Pyramid
Lake in Nevada sind in atemberaubenden Totalen und faszinierenden
Lichtstimmungen eingefangen. Die Kameraarbeit von
William C. Mellor - er verstarb während der Dreharbeiten - und
Loyal Griggs ist das größte Kapital des gravitätisch inszenierten,
dafür aber unnötig mit Stars überfrachteten Vierstundenwerkes.
In manchen Szenen verliert man sich in der Betrachtung einer
Felsformation, eines Wasserstrudels oder einer kleinen Gruppe
in der überwältigenden Landschaft, so daß fast der Eindruck
entsteht, einen Dokumentar- oder Experimentalfilm zu sehen.
Auf Hollywood-typische Makeup- und Filterkonventionen wurde
verzichtet, das Bild ist stets klar und auf Räumlichkeit hin komponiert.
Bei allen Fehlern des Films muß man zugeben, daß das
Ultra Panavision-Format hier tatsächlich zum Window of the
World wurde.
22)
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Die späten 1960er: Breitfilm-Dämmerung
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1968, zwei Jahre nachdem mit Khartoum die Produktion in
Ultra Panavision beendet war, kam Ben-Hur in Wiederaufführung
in die Kinos. Seit 1960 hatte sich die Zahl der 70-mmfähigen
Kinos zwar erhöht, aber nur wenige davon verfügten
über anamorphotische Optiken und die superbreite Bildwand
für 1:2,76
23). Daher stellte MGM eine entzerrte und seitlich auf
das normale 1:2,21 beschnittene Ben-Hur-Fassung her, die
auf breiter Front einsetzbar war. Die Bildqualität entsprach
nicht den ursprünglichen, in direkter Kontaktkopierung vom
Kameranegativ entstandenen anamorphotischen Kopien, vermutlich
wollte man eine erneute Belastung des wertvollen Originalnegativs
nicht riskieren.
Die “gepreßten” Ben-Hur-Kopien blieben aber bis Ende der
1980er Jahre parallel im Verleih, wobei es manche Aufführungen
gab, in denen einige Rollen des Films komprimiert und einige
sphärisch liefen. Neben dem unregelmäßig auftretenden “Verschlankungs-Effekt” fiel auch das unterschiedliche Verblassen
der Farben in den Rollen von 1960 und 1968 deutlich auf. Der
unvermeidliche Farbschwund des Eastmancolor-Positivmaterial
führte zu der traurigen Situation, daß Ben-Hur seit Jahrzehnten
nicht mehr im originalen Bildformat und mit korrekten Farben zu
sehen war - das gilt natürlich für fast alle älteren 70-mm-Produktionen.
Auch vollständige, farblich gefadete Camera-65-Kopien
und digitale Restaurierungen können echte 70-mm-Fans darüber
nicht hinwegtrösten.
MGMs Geschäftsbeziehung mit Panavision blieb bestehen, und
neben zahllosen in 35mm Panavision gedrehten Spielfilmen entstanden
bis Anfang der 1970er Jahre mit sphärischem 65mm
gedrehte Großproduktionen wie Grand Prix (1966), Ice Station
Zebra (1968) und Ryan’s Daughter (1970). Viele dieser Filme wurden
auf stark gewölbten Bildwänden gezeigt und als “Cinerama”
beworben. Ein solcher Fall ist auch
2OO1: A Space Odyssey
(1965-68). Regisseur Stanley Kubrick, der vor jedem Film ausführliche
Objektivtests durchführte und eine große Sammlung
eigener Optiken besaß, zog schließlich die sphärischen Objektive
von Super Panavision vor - der fertige Film enthielt dann auch
viele extreme Weitwinkelaufnahmen, die mit Ultra Panavision so
nicht machbar gewesen wären. Mit Sicherheit hätte um den Faktor
1,25 komprimiertes Bildmaterial auch die visuellen Effekte
komplizierter gestaltet.
24)
Beim Kriegsfilm The Battle of the Bulge, einer Koproduktion von
Warner Bros. und Cinerama Inc., wurde dem Regisseur
Ken Annakin
vom Produzenten George Foreman eigens ein Kameramann
geschickt, um unabhängig vom Hauptteam spektakuläre
Aufnahmen mit bewegter Kamera zu drehen, die auf tiefgewölbten
Bildwänden in „single-lens Cinerama“-Theatern den Betrachter
an die Stelle von Panzerfahrern und Stuka-Bomberpiloten
versetzen sollten.
25)
Ähnlich wie Raintree County gelangte auch The Fall of the Roman
Empire (1964) nicht im Originalformat auf die Leinwand.
Aufgenommen in Ultra Panavision, lief Anthony Manns Historienspektakel
nur in sphärischen Breitfilmkopien auf 1:2,21. Die
Vorführkopien entstanden bei Technicolor London in optischer
Schrittkopierung vom Kameranegativ, wobei die 1,25x-Anamorphose
aufgehoben und das 1:2,76-Bild seitlich beschnitten wurde.
Es ist nicht bekannt, was der Grund hinter dieser Entscheidung
war, aber die Bildqualität ist trotz des Flächenverlustes
exzellent. Der Verfasser meldet hiermit dringend den Wunsch
nach einer neukopierten 70-mm-Fassung im unbeschnittenen
1:2,76-Ultra Panavision an!
26)
Am Ende des Jahrzehnts ging die Zeit der auf 65mm aufgenommenen
Spielfilme zuende, wenn auch weiterhin Blowups von
35mm auf 70mm in den großen Kinos zu sehen waren. Es sei
daran erinnert, dass nahezu alle 70-mm-Filme auch nach dem
allgemeinen Ende der 65-mm-und Large-Format-Aufnahmepraxis
noch viele Jahre lang beim Kinopublikum präsent blieben.
Bis weit in die 1980er Jahre hinein wurden 70-mm-Klassiker als
Reprisen, in Matinees und Filmreihen gespielt, so dass die Produktionen
der 1960er Jahre noch Jahrzehnte später ihr Publikum
fanden. Erst mit dem Siegeszug der Multiplexe, des Blockbuster-Kinos und dem allmählichen Verschwinden der Repertoirepraxis
wurden die Klassiker nach und nach von den 70mm-
Bildwänden vertrieben, so wie auch viele für Breitfilm optimaleingerichtete
Traditionskinos in der sich wandelnden Filmtheaterwirtschaft
aufgeben mussten.
27)
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2015: Ein Dinosaurier wird reanimiert
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On the set of Quentin Tarantino's "The Hateful Eight",
the Panavision
System 65 camera, Robert Richardson and crew. The
last week of shooting in Telluride in Ultra Panavision 70 (ultimo March
2015). First AC Gregor Tavenner, Cinematographer Robert Richardson ASC and Panavision's Bob
Harvey & Jim Roudebush.
1,25x Ultra Panavision squeeze added for authenticity.
Zurück in die Gegenwart: Quentin Tarantino hat sich keineswegs
darauf beschränkt, The Hateful Eight in einem vor 49 Jahren
ausgestorbenen Filmformat zu drehen, sondern sich auch vorgenommen,
das Konzept der echten Roadshow wiederzubeleben.
28) Sein Film wird Ende diesen Jahres zunächst in etwa 50
ausgewählten Kinos starten, die mit komplett überholten und
instandgesetzten 70-mm-Projektoren ausgestattet wurden - die
breite Auswertung in Digitalprojektion und 35mm beginnt erst
zwei Wochen später. Da seit der Digitalisierung der Kinoprojektion
kaum noch erfahrene Vorführer tätig sind, die sich mit der
Handhabung des Breitfilmmaterial auskennen, haben mehrere
kinotechnische Fachfirmen die Betreuung dieser Roadshow-Einsätze mit erfahrenem Personal in die Hand genommen. Eine
kluge Entscheidung, weil sich bei 70-mm-Einsätzen in den letzten
Jahren - etwa bei P. T. Andersons
The Master und Christopher Nolans
Interstellar - gezeigt hat, daß weltweit selbst in Traditionskinos
mit großem Namen die teuren Kopien vielfach nach
wenigen Tagen irreparabel beschädigt wurden.
Die für 70-mm-Fans entscheidende Frage bleibt aber, ob Tarantino
und sein Kameramann Robert Richardson einen fotografischen
Stil gefunden haben, der die Verwendung des anamorphotischen
65-mm-Formates zu einem besonderen visuellen
Erlebnis macht, oder ob sie heute gängige Stilmittel und Klischees
nur im Ultra Panavision-Format extrabreit auswalzen. Es
ist zu hoffen, daß der Regisseur bei diesem Projekt, dessen
Technik ihm offenkundig sehr am Herzen liegt, zu dem klassischen
und visuell anregenden Stil zurückfindet, der Filme wie
Pulp Fiction interessant gemacht hat. Jedem, der sich nun im
Vorfeld darüber beschwert, daß The Hateful Eight über weite
Strecken in einer eingeschneiten Blockhütte spielt, kann man
nur einen Satz von Jacques Tati (Playtime) entgegenhalten: “Ich
finde 70mm ganz ausgezeichnet, um einen Bleistift vom Tisch
fallen zu lassen.”
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Notes
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1) Kill Bill wurde sphärisch mit modernen Optiken im Super-35-Format
aufgenommen.
2) Zu den technischen Fragen der Reaktivierung von Ultra Panavision für The
Hateful
Eight: Purcell, Tyler: Panavision and the
Resurrecting of Dinosaur
Technology
3) Allerdings gelang es 20th Century Fox nicht, alle Kinobesitzer zum Einbau
stereophoner 4-Kanal-Magnettontechnik zu zwingen. Am Ende lenkte das Studio
ein, gestattete alternativ Abspielen in Mono und lieferte bald auch die
üblichen
einkanaligen Lichttonkopien.
4) siehe auch Die Kino-Revolution fand nicht statt:
Breitfilm und Breitwand
um 1930
5) vgl. Belton, John: Wide Screen Cinema, Harvard 1992
6) Ein ähnliches System bot ein anderer Hersteller unter dem Namen Tushinksy
Lens
oder SuperScope an. In der Praxis gab es immer nur den Faktor 2, wenn man
von
den Cinestage-35-mm-Kopien absieht, die man für
Around the World in 80 Days hergestellt hatte (Faktor 1,56). Bei allen neuen Aufnahmesystemen achteten
die
Studios darauf, dass das Endprodukt auf 35mm mit CinemaScope kompatibel
blieb. In England gab es kurzzeitg anamorphotische VistaVision-Kopien mit
Faktor
1,33x auf 35mm.
7) Auch bei Technirama-70 kamen Micro-Panatar-Objektive zum Einsatz, wenn
das mit dem Faktor 1,5 komprimierte 8-perf Kameranegativ mittels optischer
Schrittkopierung auf die 70-mm-Positivmaterial kopiert wurde. Bei solchen
Umkopierungen findet sich im Vorspann der Credit „photographic lenses by
Panavision“.
8) So erinnert sich ein Mitarbeiter von Technicolor Ltd. in einem
BFI-Interview an Lawrence of Arabia als anamorphotische 65-mm-Produktion – der Film entstand
aber in sphärischem
Super Panavision.
9) Shearer, Douglas: MGM Panavision Enlarged-film System,
internes Memo,
Culver
City 1955;
10) Ein Zeitungsbericht des Los Angeles Herald & Express vom 27. April 1953
berichtete über MGMs neues “Arnoldscope”-Verfahren (wegen des Bildschritts
auch “ten-holer” genannt), welches durch Reduktionskopierung schärfere
CinemaScope-Kopien erzeugen solle.
11) zur Technik von Todd-AO
12) zur
Technik von CinemaScope 55
13) Technicolor hatte durch langjährige optische Arbeiten bei der Herstellung
von
dreistreifigen Farbaufnahmen mehr Erfahrung als jedes andere Kopierwerk.
Anfang 1955 verbesserte man die Schärfe des Farbdruckverfahrens, um
den Anforderungen der Breitbildformate nachzukommen. Die Kombination
von Aufnahme auf Eastmancolor-Negativ in allen Formaten und Endfertigung
der Kinokopien im Druckverfahren blieb für die kommenden Jahre eine
Schlüsseltechnik.
14) Zur Bedeutung und Chronologie der Arbeit von Panavision, Inc.:
Mitchell, Rick: Ultra Panavision 70 - An Introduction (2005).
Heuel, Hans-Joachim, Die Panavision Story, Film+TV Kameramann,
Mai 1986, S. 384ff
Bijl, Adriaan: The Importance of Panavision.
Micro Panatar Kopieroptik
von Panavision
15) Zur zeitgenössischen Rezeption und Vermarktung des Films siehe auch:
Witte, Gerhard: Zur Erinnerung an William Wylers monumentales Epos BEN-HUR,
gefilmt in MGMs Camera 65
16) Merle Chamberlin leitete MGMs Editorial Department, die Angaben stammen
aus
seinem Vortrag bei der 45. SMPTE-Tagung. Die Preise entsprachen übrigens
damals DM 7.100 für 35mm und DM 36.750 für 70mm!
Zitiert nach: Der Deutsche Kameramann, Jahrgang 9, Nr. 12, Dezember 1960, S.
243f
17) Der Panavision-Techniker Tak Miyagishima bestätigte diesen Sachverhalt
mehrfach, s.a.: +
widescreenmuseum.com
18) Barry Salt nennt in Film Style and Technology: History and Analysis
(London
1977) für Ultra Panavision einen Brennweitenbereich von 57 bis 220mm. - Die
enge Abstufung zwischen 50 und 55mm ist ungewöhnlich, daher die vorläufige
Annahme, daß das 55mm das ursprüngliche Prismendesign aufweist, das 50mm
dagegen ein späterer und lichtstärkerer Zylinderlinsen-Anamorphot ist.
Leider sind
in der Tabelle und mir zugänglichen Panavision-Dokumenten keine Lichtstärken
angegeben. Im tabellarischen Vergleich der Bildwinkel zwischen sphärischem
und
anamorphotischem 65/70mm ist der vertikale Bildwinkel aussagekräftiger, weil
der horizontale Winkel durch das anamorphotische Element beeinflusst wird.
Bei
gleicher Bildwandhöhe im Kino ist in diesem Sonderfall die Bildperspektive
dann
identisch, wenn die vertikalen Winkel übereinstimmen.
19) Ähnliches galt übrigens für Technirama, weil der Strahlengang im Delrama
Prismenvorsatz den maximalen Bildwinkel begrenzt. VistaVision, welches das
gleiche Aufnahmeformat (8-perf 35mm) nutzt, konnte hingegen nahezu alle in
der
Kleinbildfotografie verwendeten Weitwinkelobjektive einsetzen.
20) Ursprünglich sollte Todd-AO nur mit dem Weitwinkel aufgenommen werden.
Dr Brian O'Brien schreibt dazu:
„Initially we intended to have only the “Bug Eye” lens, analogous to
Cinerama‘s
equivalent of only one “lens”. However, the Hollywood types insisted that
they
must have a series of “longer focus” lenses for close-ups etc. We tried to
explain
to them that they would lose the audience participation effect if they went
to
narrower angles, but they insisted that they would only use them for
close-ups. As
a result we gave them 64, 48 and 32 degree lenses in addition to the 128
degree
Bugeye. It was the biggest mistake we ever made! These great “professional”
cinematographers and directors didn’t have the faintest idea how to use the
wide
angle or participation effect...“
zit.
21) MGM selbst legte ursprünglich keinen übermäßigen Wert auf tiefgewölbte
Bildwände. Im Berliner MGM-Theater („Fenster zur Welt“) wurde sogar eigens
für
Ultra Panavision eine flache Bildwand installiert.
22) Der Arrangeur und Chorleiter Ken Darby hat über die Probleme der
Produktion
mit Stevens ein spannendes Buch geschrieben: Hollywood Holyland: The Filming
and Scoring of ‘The Greatest Story Ever Told’. Metuchen, New Jersey:
Scarecrow
Press, 1992
23) Verschiedene Quellen nennen eine Zahl von maximal 100 Kinos weltweit, die
Ultra Panavision spielen konnten. Darin sind allerdings auch Filmtheater
enthalten,
die die volle Breite nur bei reduzierter Bildhöhe auf ihrer Todd-AO-Bildwand
wiedergeben konnten.
24) zu Kubricks Objektivwahl s.a.: Das Handwerk des Sehens in Stanley
Kubrick,
Kinematograph Nr. 19, S.254f Frankfurt/M. 2004/2007, ISBN 3-88799-068-4
25) siehe auch: Annakin, Ken: So You Wanna be a Director? (2001) ISBN 0-953
1926-5-2
Interview mit Ken Annakin
26) Obwohl keine anamorphotischen 70-mm-Kopien von Roman Empire bekannt
sind, ist nicht auszuschließen, daß es dennoch welche gegeben haben könnte,
eventuell für die Premiere. Auch bei Raintree County deutet vieles auf eine
70-mm-Kopie für die Premiere hin. Rick Mitchell merkt dazu an: “However,
cinematographer John Hora [AdÜ: Gremlins, The Howling]
remembers seeing a
70mm print at MGM when he was a USC Cinema student in the early Sixties.”
In der Branchenzeitschrift „The Film Daily“ war am 13. September 1957 unter
der
Überschrift „M-G-M’s Flexible ‚Raintree’ Policy“ zu lesen: „M-G-M sources
say
that wide.gauge projection will be employed at the Louisville house
[Premierenkino
am 2. Oktober 1957] to provide optimum results, and that big prints can be
made
available to other roadshow houses capable of using them.”
27) Jean-Pierre Gutzeit gibt anhand des Berliner
Royal Palast, dem Kino mit
Europas
größter 70-mm-Bildwand, eine gute Übersicht über die Rezeption und Bedeutung
der Breitfilmtechnik seit Anfang der sechziger Jahre.
28) Interview mit Quentin Tarantino
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28-07-24 |
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